LP Cover - Complete Works Of Edgard
2 LPs - Label: modern silence – OI004
Edgard Varèse war ein musikalischer Revolutionär, ein Avantgardist, dessen Werk die Grenzen seiner Zeit nicht nur sprengte, sondern sie vollkommen neu definierte.
Während das frühe 20. Jahrhundert Zeuge beispielloser Umbrüche in Kunst, Literatur und Gesellschaft wurde, erhob Varèse den Klang selbst zum eigentlichen Gegenstand
musikalischen Denkens – nicht als Träger von Melodie oder Harmonie, sondern als autonome Formenergie. Klang wurde bei ihm zur Skulptur, Musik zur räumlichen Projektion.
Damit öffnete er nicht nur Tore für spätere Komponisten wie Stockhausen, Boulez oder Xenakis, sondern beeinflusste auch Musiker außerhalb der akademischen Welt – allen
voran Frank Zappa.
Vom musikalischen Außenseiter zum Vordenker
Geboren 1883 in Frankreich, aufgewachsen zwischen Italien und Paris, musste Varèse früh gegen die Vorstellungen seines Vaters ankämpfen, der ihn auf eine Ingenieurslaufbahn
drängen wollte. Doch Varèse wählte die Musik – und zwar nicht irgendeine: Schon in seinen Studienjahren suchte er nach Ausdrucksmöglichkeiten jenseits des etablierten
Tonsatzes. Früh beeinflusst von Debussy, Satie, später von Busoni, Strawinsky und Schönberg, entwickelte er eine radikal neue Idee von Komposition: Musik sollte nicht
länger auf motivischer Arbeit, auf Formmodellen der Vergangenheit oder auf tonalen Hierarchien beruhen, sondern auf reinen Klängen, organisiert durch Dynamik, Raum
und Zeit.
Klangmassen statt Themen
Was bei Strawinsky rhythmisch revolutioniert wurde und bei Schönberg harmonisch, führte Varèse konsequent in eine neue Richtung: Klangmassen. Werke wie Amériques (1921)
oder Arcana (1927) bestehen nicht aus klassischen Themen oder Harmonien, sondern aus kontrastierenden Klangblöcken, die sich überlagern, verschieben, gegeneinanderstoßen.
In Ionisation (1931), einem reinen Schlagzeugstück, lässt er 13 Perkussionisten aufspielen – darunter Sirenen, Gongs, Glocken und Hupen. Varèse hat dabei nie improvisiert
oder chaotisch gearbeitet – seine Musik war durchorganisiert, aber auf einer Ebene, die traditionelle Notenschrift und klassische Analysemodelle oft unterlief.
Die Elektronik als Befreiungsschlag
Varèse träumte schon in den 1920er Jahren von „elektronischen Instrumenten“, die jeden beliebigen Klang erzeugen könnten. In einem seiner berühmtesten Zitate sagte er:
„Ich träume von Instrumenten, deren Klang durch Knopfdruck hervorgerufen wird. Ich bin ein Musiker, der Instrumente verlangt, die es noch nicht gibt.“
Mit Déserts (1954) und dem bahnbrechenden Poème électronique (1958) verwirklichte er schließlich diesen Traum. Letzteres entstand in Zusammenarbeit mit dem Architekten
Le Corbusier und wurde in einem eigens entworfenen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel über 425 Lautsprecher abgespielt – eine akustisch-visuelle Rauminstallation
avant la lettre. Mehr als zwei Millionen Menschen hörten dieses Werk – oft ohne zu wissen, dass sie Zeugen eines radikalen Umbruchs wurden.
Zappa, Boulez, Cage: Das Erbe Varèses
Edgard Varèse war ein Komponist, den die Jugend neu entdeckte. In den 1960er Jahren – zur Zeit der Darmstädter Avantgarde, aber auch zur Blütezeit der psychedelischen
Rockmusik – wurde Varèse zu einer Kultfigur.
Frank Zappa, damals noch Schüler, las ein Interview mit ihm in der Zeitschrift LOOK und war elektrisiert: „Ich wusste sofort: Das ist mein Mann.“ Er kaufte sich The Complete
Works of Edgard Varèse, Vol. 1 – seine allererste Schallplatte. Zappa blieb dem Vorbild treu, nannte eines seiner Kinder „Dweezil Edgard“, ließ sich in seinen Collagen,
Soundexperimente und orchestralen Werken wie The Yellow Shark hörbar inspirieren und schrieb später:
„Varèse war der Vater der modernen Musik – und mein spiritueller Vater.“
Auch Karlheinz Stockhausen, John Cage, Pierre Boulez und Luigi Nono verdankten Varèse ihre Vorstellung von Musik als offener Raum, als Projektionsfeld von Klangideen
jenseits des Notensystems. Cage lernte durch Varèse, dass jedes Geräusch Musik sein kann, Boulez übernahm die Idee strukturierter Klangfelder.
Der kompromisslose Außenseiter
Varèse blieb zeitlebens ein Einzelgänger – ohne feste Schule, ohne „Anhänger“, ohne institutionelle Karriere. Er weigerte sich, seine Musik zu erklären oder gar zu
rechtfertigen. Seine Ablehnung gegenüber dem Musikbetrieb war ebenso radikal wie seine Musik: Förderinstitutionen, Dirigenten, Verlage – sie alle verstanden ihn oft nicht
oder weigerten sich, seine Werke aufzuführen. Zeitweise galt er als verschollen, seine Werke wurden kaum gespielt. Erst in der Nachkriegszeit – vor allem durch die
Elektronik und das zunehmende Interesse an Raumklang und Kollektivimprovisation – wurde er rehabilitiert.
Heute gilt Varèse als ein Pionier: Er war weder ein reiner Komponist der Avantgarde noch ein reiner Klangforscher – sondern ein visionärer Künstler, der Musik als Medium
einer zukünftigen Gesellschaft verstand.
Fazit
Edgard Varèse sprengte nicht nur die Grenzen des Tonsatzes, sondern auch die der Wahrnehmung. Seine Musik ist nicht zur Kontemplation gedacht, sondern zur Konfrontation –
sie will herausfordern, erschüttern, transformieren.
Er sah Musik als „organisierte Klangenergie“ – ein Konzept, das weit über den Konzertsaal hinausweist. Damit hat er nicht nur Komponisten, sondern auch Rockmusiker,
Klangkünstler, Architekten und Medienkünstler beeinflusst. In einer Zeit, in der die elektronische Musik zum Massenphänomen wurde, bleibt Varèse der Prophet, der die
Zukunft hörbar machte – lange bevor sie kam.